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So entstehen mystische Erfahrungen bei Psychedelika

October 29, 2022

Intro

Auf psychedelischen Retreats berichten immer wieder Teilnehmende von paranormalen und mystischen Erfahrungen, für deren Auftreten sie keinerlei Erklärung haben. Wie kommt es eigentlich dazu?

Das Gefühl puren Einsseins mit allem, eine Begegnung mit dem Göttlichen, Visionen aus der Zukunft empfangen oder die Wahrnehmung von Befindlichkeiten und Gedanken liebevoller Mitmenschen. Solche oder ähnliche Phänomene mystischen oder paranormalen Ursprungs werden häufig von Retreat-Teilnehmenden berichtet, die eine tiefe Erfahrung mithilfe von Psychedelika gemacht haben. Doch wie ist es möglich bzw. ist es überhaupt möglich, mit psychedelischen Substanzen in solche Bewusstseinszustände zu gelangen, in denen paranormale Erfahrungen wie Telepathie oder Präkognition möglich sind?

Der Glaube an das Übernatürliche

Bewusstseinserweiternde Substanzen haben eine jahrtausendalte Historie. Schon vor mehr als 2000 Jahren nutzten indigene Völker in Mesoamerika sogenannte Zauberpilze für schamanisch-rituelle Zwecke. Durch die Verehrung und Einnahme der „Gottpilze“, wie sie zum Beispiel die südamerikanischen Azteken nannten, gelang es den Zeremoniellen laut eigenen Aussagen, die sie in alten Schriften festigten, sowohl mit den Ur-Vorfahren, aber auch direkt mit dem Göttlichen in Verbindung zu treten und zu sprechen. [1] Über Mythologien, Glaubenssätze und Religionen hinweg, lässt sich der Begriff „Gott“ unterschiedlich interpretieren – im Buddhismus, Islam, Christum oder auch im Voodoo-Kult. Er kann ebenfalls als eine unpersönliche und schöpferische Kraft wahrgenommen werden – als das Universum selbst, eine kollektive Energie, die durch uns durchfließt und uns alle eint. Diese und weitere übernatürliche Wahrnehmungen spüren viele Konsument:innen von psychedelischen Subtanzen, deren Empfinden als mystisch und paranormal interpretiert wird. Doch was genau versteht man eigentlich darunter?

Die Bedeutung der Wissenschaft

Der gängige Begriff der Paranormalität, also das nicht auf natürliche Weise Erklärbare der Realität, wird der außersinnlichen Wahrnehmung, im Englischen extrasensory perception (ESP), zugeschrieben. Im Zusammenhang mit Psychedelika wird in den meisten Fällen bei überwiegend höherdosierten bzw. intensiveren Erlebnissen von einer außerkörperlichen Wahrnehmung oder einer Nahtoderfahrung berichtet. Diese werden im psychedelischen Volksmund als der sogenannte „Ego-Tod“ verstanden. Das symbolische Sterben, auch als Ich-Auflösung bekannt, kann schmerzhaft, verwirrend und chaotisch sein, jedoch auch als etwas Befreiendes, Bewusstseinserweiterndes und Übernatürliches wahrgenommen werden, was den Blick auf das eigene Leben völlig verändern kann.

Studienteilnehmende aus 2016, die ihre eigene psychedelische Erfahrung als mystisch bzw. paranormal und allgemein als etwas Positives beschrieben, gaben etwa an, nachhaltig eine verringerte Angst vor dem Tod, einen gesteigerten Sinn für das Wesentliche und eine höhere Bedeutung von Spiritualität zu fühlen. [2]

Es wird viel darüber gerätselt, wie paranormale Erfahrungen ausgelöst werden können. Die Wissenschaft ist sich zwar großenteils über die chemischen Prozesse im Gehirn einig, steht jedoch vor Rätseln bei der Entstehung der Halluzinationen. [2] Mögliche Erklärungsversuche gibt es jedoch: Zum einen bietet die starke Veränderung der eigenen Vorstellung von Raum und Zeit – sogar die des eigenen Ichs – die ideale Voraussetzung, den eigenen temporären Bewusstseinszustand als für nicht erklärbar, also paranormal, zu halten. Starke neurochemische Gehirnaktivitäten verursachen durch die Hilfe von psychoaktiven Stimulanzen eine erweiterte und transpersonale Vorstellung von Realität – also auch dem Aufbrechen festgeschriebener Glaubenssätze und Denkmuster, die weit über den eigenen Kosmos hinausgehen.

Der große Filter

Stress mit dem Boss, Scrollen durch den Social Media-Feed, negative Nachrichten aus dem Fernseher: Unser Gehirn ist Sekunde für Sekunde einer großen Menge an Informationen und Reizen ausgesetzt. Damit das neuronale System nicht gänzlich überfordert wird, arbeitet es mit unzähligen Filtern für Sinneseindrücke, Erinnerungen und Erfahrungen, um sich auf die wichtigen Informationen zu konzentrieren, die dem natürlichen Überleben bestmöglich dienen. Dieser Filtertheorie des französischen Philosophen Henri Bergson zufolge, fungiert das Gehirn als Reduzierventil, um das universelle und kollektive Bewusstsein zu filtern, was gleichzeitig dafür sorgt, dass unsere Wahrnehmung im Alltag stark eingeschränkt ist. [4] Durch die Einnahme von Psychedelika wird die Arbeitsweise der Filter mittels eines Überflusses an Neurotransmittern über den Zeitraum der Erfahrung unterbrochen, was eine Steigerung des Informationsflusses und der Sinneseindrücke zufolge hat.

Zur Annahme, dass die Aktivität im Gehirn bei psychedelischen Erfahrungen besonders hoch sein müsste, haben Forschungen überraschendweise gezeigt, dass mit einer geringeren Hirnaktivität auch die Fähigkeit, Informationen und Reize zu filtern, abnimmt. Zu den Bereichen mit deutlich geringerer Aktivität während einer psychedelischen Erfahrung gehören der präfrontale Kortex sowie das Default Mode Network.

Das Default Mode Network

Ist der präfrontale Kortex und das Default Mode Network (DMN) beeinträchtigt, wird der Bereich des Gehirns, der üblicherweise für die Introspektion sowie die Konstruktion des "Selbst", dem "Ego", verantwortlich ist, erheblich eingeschränkt. Der folgende Ist-Zustand kann variieren zwischen einem starken Gefühl der Verbundenheit über die Erkenntnis der Sinnhaftigkeit des Göttlichen bis zum Verlust des eigenen Ichs. Dabei wird angenommen, dass das Spiegelneuronen-System (MNS) für mystische Erfahrungen eine Rolle spielt. [5] Jenes System trug in der Evolution der menschlichen Kognition dazu bei, sich selbst zu entwickeln, indem es dafür verantwortlich ist, wie wir das Verhalten und die Handlungen anderer nachahmen – demnach "spiegeln". Gleichwohl bei der Empathie und beim Gefühl der Verbundenheit während einer psychedelischen Erfahrung trägt es einen wesentlichen Teil dazu bei, spirituell das Verständnis von und für sich selbst zu vertiefen.

Die ersten indigenen Retreats

Auch wenn die Neurowissenschaft die chemischen Prozesse im Gehirn während einer psychedelischen Reise akribisch erforscht, so mag uns ebenfalls ein anthropologischer Blick auf die Evolution des Menschen helfen, um paranormale Erfahrungen mit dem „Göttlichen“ auf einer spirituellen Ebene zu verstehen. Speziell im schamanischen Kontext wurden Psychedelika seitens der indigenen Urvölker als heilige Pflanzen und Entheogene betrachtet.

Man war der Annahme, die in den Psychedelika befindlichen Geister, die auch in Tierform als „Geisttiere“ in Erscheinung traten, würden den Konsument:innen Wissen und Kraft verleihen und sie auf eine übernatürliche Reise außerhalb des eigenen Körpers mitnehmen. Gesellschaftliche Rituale wurden dabei nicht nur durch psychedelische Substanzen bestimmt, sondern ebenfalls durch Tanzen, Singen, Trommeln und Fasten begleitet. Ähnlich wie Psychedelika verändern jene Aktivitäten die normale Gehirnfunktion und eröffnen so neue neuronale Verbindungen. So wurden im Laufe der Geschichte schamanische Rituale zu einem wesentlichen Bestandteil des sozialen Miteinanders und häufig durch bewusstseinsverändernde Substanzen angeregt. Das mag erklären, warum heutzutage viele Retreats einem zeremoniellen Charakter folgen, begleitet durch Musik oder Gesang, der somit die Mystik vergangener Kulturen über Jahrtausende hinweg mit sich bringt.

Sind paranormale Erfahrungen messbar?

Die Beantwortung dieser Frage scheint auf den ersten Blick durch ihre subjektive Interpretation schier unmöglich. Doch die Wissenschaft bietet heute einige Möglichkeiten in Form von Messinstrumenten und Skalen, um Antworten zu liefern über persönliche Erfahrungen, die sich nur schwer auszudrücken und quantifizieren lassen. Zwei solcher Verfahren sind die Hood Mysticism Scale und der Mystical Experience Questionnaire (MEQ). [6] Während ersteres eine Messskala für mystische Erfahren wie Selbst-Auflösung oder Einheitsgefühl ist, fokussiert der Selbstauskunftsfragebogen MEQ mithilfe von 30 Fragen vier messbare Bestandteile eines typischen paranormalen Erlebnisses.

Studien zeigen, dass Menschen, die Psychedelika konsumiert haben, im Vergleich zu Nicht-Konsument:innen oder Konsument:innen von Substanzen, denen keine oder eine nur minimale bewusstseinserweiternde Wirkung zugeschrieben wird, eher eine spirituelle Lebenseinstellung pflegen. [7] Auch viele Menschen ohne festen Glauben fühlen sich nach einer psychedelischen Reise eher zu etwas Übernatürlichem hingezogen. Mehr als zwei Drittel einer Studie mit vorrangig früheren Atheist:innen bekehren sich im Nachgang einer mystischen bzw. übernatürlichen Erfahrung zu einem neueren Glauben, der ihrem Leben eine höhere Bedeutung verleiht. [8] Das kann sich in Gänze möglicherweise auch positiv auf die psychische Gesundheit der Teilnehmenden auswirken, sowohl bei depressiven Verstimmungen als auch dem allgemeinen Wohlbefinden, was zu einer höheren Lebenserwartung führen kann. [9]

Integration der mystischen Erfahrung

Die Relation zwischen Psychedelika und paranormalen Erfahrungen ist faszinierend und komplex zugleich. Trotz einer langen und umfangreichen Geschichte, die weit in die menschliche Evolution zurückgeht, befindet sich die heutige Neuro-Wissenschaft bei vielen Aspekten im Unwissen.

Blicken wir Jahrtausende zurück, fanden indigene psychedelische Zeremonien überwiegend in Gruppen und in Begleitung erfahrener schamanischer Begleiter:innen statt. Der Rahmen eines Rituals gab der Erfahrung eine besondere Wichtigkeit sowie einen geschützten Raum durch die Anwesenheit von Menschen, die der gegenwärtigen Situation gewachsen waren und die dabei halfen, das Göttliche oder das Mystische, was einem begegnet, zu deuten und bei der Integration zu unterstützen.

Psychedelische Zeremonien in der heutigen Zeit, wie unser Trüffel-Retreat in den Niederlanden, bieten einen ganzheitlichen Ansatz als Kombination von westlicher Moderne und zeremonieller Selbsterfahrung. Gerade eine mystische Erfahrung kann verwirrend und herausfordernd sein, wenn man damit allein gelassen wird. Neben einem geschützten Rahmen mit dem idealen Set & Setting während der Erfahrung, ist eine professionelle Begleitung sowie nachhaltige Integration enorm wichtig, um aus dem Paranormalen etwas einzigartig Kostbares zu formen, das ganzheitlich verstanden wird und sich langfristig in das eigene Leben integrieren kann.

[1] Gehirn&Geist Dossier - Drogen: Zwischen Rausch und Heilung. (2022). Deutschland: Spektrum der Wissenschaft, S. 40.

[2] Yaden DB, Le Nguyen KD, Kern ML, et al. Of Roots and Fruits: A Comparison of Psychedelic and Nonpsychedelic Mystical Experiences. Journal of Humanistic Psychology. 2017; 57 (4).

[3] Lee HM, Roth BL. Hallucinogen actions on human brain revealed. Proc Natl Acad Sci U S A. 2012 Feb 7; 109 (6) :1820-1.

[4] Luke, D. (2012). Psychoactive substances and paranormal phenomena: A comprehensive review. International Journal of Transpersonal Studies, 31 (1), 97–156.

[5] Winkelman MJ. The Mechanisms of Psychedelic Visionary Experiences: Hypotheses from Evolutionary Psychology. Front Neurosci. 2017 Sep.

[6] Maclean KA, Leoutsakos JM, Johnson MW, Griffiths RR. Factor Analysis of the Mystical Experience Questionnaire: A Study of Experiences Occasioned by the Hallucinogen Psilocybin. J Sci Study Relig. 2012 Dec; 51(4).

[7] Móró L, Simon K, Bárd I, Rácz J. Voice of the psychonauts: coping, life purpose, and spirituality in psychedelic drug users. J Psychoactive Drugs. 2011 Jul-Sep; 43 (3): 188-98.

[8] Griffiths RR, Hurwitz ES, Davis AK, Johnson MW, Jesse R (2019) Survey of subjective "God encounter experiences": Comparisons among naturally occurring experiences and those occasioned by the classic psychedelics psilocybin, LSD, ayahuasca, or DMT. PLoS ONE 14 (4).

[9] Hartogsohn I (2018) The Meaning-Enhancing Properties of Psychedelics and Their Mediator Role in Psychedelic Therapy, Spirituality, and Creativity. Front. Neurosci. 12: 129.